Hauptvortrag 1: Prof. Friedhelm Brusniak

Der erste Hauptvortrag der Tagung “Chorleben in der Schweiz, 19.-21. Jahrhundert” wird von Prof. Dr. Friedhelm Brusniak (Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Deutschland) gehalten.

Unten können Sie die Zusammenfassung seines Vortrags lesen.

Zum Wandel vom Liedertafelstil zur Chorpolyphonie im 19. und 20. Jahrhundert

Am 6. Juni 1903 hielt Kaiser Wilhelm II. im Anschluss an das zweite „Kaiserpreissingen“ um den von ihm gestifteten Wanderpreis für den Wettstreit deutscher Männergesangvereine eine denkwürdige Rede über „Das deutsche Volkslied“. Dabei kritisierte er eine seiner Meinung nach falsche Repertoireauswahl für Laienchöre und unangemessene Leistungsanforderungen an die Sänger bei virtuosen Chorwerken. Als Konsequenz kündigte er eine Sammlung „sämtlicher Volkslieder“ an, „die in Deutschland, Österreich und der Schweiz geschrieben, gesungen und bekannt“ wären. Unverzüglich wurden eine Arbeits- und eine beratende Kommission gebildet, wobei in die letztere auch der Zürcher Friedrich Hegar (1841–1927) berufen wurde. Bereits 1906 wurden auf Veranlassung des Deutschen Kaisers die beiden voluminösen, 611 Nummern umfassenden Bände des Volksliederbuch für Männerchor herausgegeben, das unter der Bezeichnung „Kaiserliederbuch“ bekannt wurde. 1915 erschien dann das Pendant Volksliederbuch für gemischten Chor mit 604 Nummern, an dem als Vertreter der Schweiz erneut Friedrich Hegar mitgewirkt hatte. Das einzigartige Editionsprojekt fand seinen Abschluss erst 1930 mit dem mehrbändigen Volksliederbuch für die Jugend, wobei auch hier Experten aus Deutschland, Österreich, Holland und der Schweiz hinzugezogen worden waren.

Doch weder die „Kaiserliederbücher“-Anthologien noch die in die Zukunft weisende, nun von der Staatlichen Kommission herausgegebene Sammlung Volksliederbuch für die Jugend konnten verhindern, dass in den 1920er Jahren eine erbitterte Diskussion um einen zu Recht oder zu Unrecht negativ beschriebenen „Liedertafelstil“ aus dem 19. Jahrhundert und eine neuartige, stürmisch begrüßte und engagiert angenommene oder abschätzig als „Polyphonitis“ kritisierte Vokalpolyphonie entbrannte. 

Die seit einiger Zeit intensivierte wissenschaftliche Untersuchung des Wandels vom immer offener kritisierten, in der Regel vierstimmig homophonen „volkstümlichen Chorlied“ im „Liedertafelstil“ von Komponisten wie Franz Abt (1819–1885) und Ignaz Heim (1818–1880) zu Vokalwerken für „Polyphonen Männerchor“ eines Erwin Lendvai (1882–1949), der vor seiner Emigration von 1935 bis 1938 in der Schweiz wirkte, hat bereits zu Neu- und Wiederentdeckungen zu Unrecht vergessener Chormusik aus einer aufregenden Umbruchzeit in der Chorkultur im frühen 20. Jahrhundert geführt.